Bericht
Interview

Günter Verheugen beim Sommerfest der DTSG - von Peter Scheible

Keiner wollte es so recht glauben, war doch an diesem Wochenende EU-Gipfel in Sevilla. Als er dann aber am vergangenen Samstag (22.6.) um 18.00 Uhr den Kaisersaal der Abtei Brauweiler betrat und kurz darauf am Rednerpult stand, war es Gewissheit: Der für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar, Günter Verheugen, war der Einladung der Deutsch-Tschechischen und –Slowakischen Gesellschaft e.V. (DTSG) gefolgt und sprach auf deren Sommerfest über die Beitrittskandidaten Tschechische Republik und Slowakische Republik.

In Sevilla sei Wegweisendes geschaffen worden: Der politische Fahrplan sehe vor, dass bis Ende 2002 die Verhandlungen mit zehn Kandidaten abgeschlossen und erste Beitrittsverträge im Frühjahr 2003 unterzeichnet werden können. Insgesamt schätze er die Chancen, dass die Tschechische Republik und die Slowakische Republik zum 1.1.2004 Mitglieder der Union werden, sehr hoch ein.

Je ein Problem pro Kandidat behandelte Verheugen allerdings sehr ausführlich. Er appellierte an die Bürger der Slowakei, sich am 21. September, dem Tag der Parlamentswahlen, bewusst zu sein, dass es nicht nur um die Zusammensetzung des Parlamentes für vier Jahre ginge. Bedingung für die Mitgliedschaft in der EU ist u.a. ein gewisser Standart an Demokratie, den Verheugen nicht bei allen Parteien und politischen Führern gewährleistet sieht.

Immer wieder seien die Präsidial-Dekrete thematisiert worden, jedoch habe er dies immer in erster Linie als ein Problem zwischen Sudetendeutschen und Tschechen angesehen, nie seien sie eine ernsthafte Hürde für den Beitritt Tschechiens oder auch der Slowakei gewesen. Die aktuelle Situation bereite ihm aber Kopfzerbrechen. Die Heftigkeit der Diskussion einerseits, die auch zu diplomatischen Problemen auf deutsch-tschechischer Ebene geführt hat und das Problem der Einstimmigkeit in den Gremien der EU andererseits haben die Frage der sog. Benes-Dekrete zum Problem werden lassen. Sorge bereite ihm der gemeinsame Nachbar Österreich. Da dort die Populisten an der Regierung beteiligt sind, drohe hier Gefahr für die Abstimmung über den EU-Beitritt der Tschechischen Republik. Gerade diesen Populisten in Österreich, aber auch in der BRD, gelte es, Argumente aus der Hand zu nehmen. Ob es denn von der tschechischen Seite zuviel verlangt sei, aus heutiger Sicht das damalige Verhalten in Frage zu stellen?

Heute stünden wir an einem Wendepunkt der Geschichte, wie er nur etwa alle hundert Jahre vorkomme. Die Einheit Europas sei eine Aufgabe für alle Bürger und eine Chance für langfristigen Frieden, die man nicht leichtfertig vertändeln darf.

Und als vor den Fenstern hupende Autos vorbeifuhren – die Türkei hatte kurz zuvor den Senegal bei der WM geschlagen, kam Verheugen um eine Metapher aus dem Fußball nicht herum: „Auch wenn das Spiel schon gewonnen scheint und man versucht ist, das Ergebnis über die Zeit zu schaukeln, muss man immer damit rechnen, auch in der Nachspielzeit einen Gegentreffer zu kassieren.“ Deswegen solle man im Fußball wie in der Politik immer möglichst frühzeitig alle Risiken vermeiden und klare Bedingungen schaffen.
 

Interview mit EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen

Von Julia Elvers (Kurzfassung in: Prager Zeitung Nr. 26, 27.6.02)

Herr Verheugen, wie kommentieren Sie den Wahlausgang in der Tschechischen Republik?

Zunächst einmal zeigt dieser Wahlausgang die demokratische Reife des tschechischen Volkes, er zeigt, dass die Demokratie in der Tschechischen Republik stabil und dauerhaft begründet ist. Das Ergebnis gibt Anlass zu der Hoffnung, dass wir in der Tschechischen Republik jetzt eine Mehrheitsregierung bekommen werden, eine Regierung gestützt auf eine parlamentarische Mehrheit, die ganz eindeutig proeuropäisch ist und die es schaffen wird, die Tschechische Republik in die Europäische Union zu führen.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung gerade auch im Hinblick auf den Beitritt zur EU?

Ich erwarte von der neuen Regierung das, was ich von allen Regierungen in den künftigen Mitgliedsländern erwarte, da gibt es keine besonderen Schwierigkeiten, was die Tschechische Republik angeht. Die Verhandlungen müssen abgeschlossen werden, die noch offenen Fragen sind aber nach meiner Meinung lösbar, sogar relativ bald lösbar. Die Tschechische Republik muss wie alle anderen auch Defizite beseitigen, die es immer noch gibt im Bereich der administrativen und der justiziellen Fähigkeiten immer noch gibt. Insbesondere, was den Bereich der Justiz angeht, glaube ich, sind weitere Reformen notwendig. Das dient nicht nur der Rechtssicherheit im eigenen Lande und der Rechtsstaatlichkeit, es geht vor allem auch darum, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union sicher sein müssen, dass nach dem Beitritt das Gemeinschaftsrecht in der Tschechischen Republik wirklich vollständig korrekt angewandt und von den Gerichten auch ausgelegt wird. Das eine ganz, ganz wichtige Frage, die manchmal gerne ein bisschen unterschätzt wird. Deshalb sage ich hier sehr deutlich, dass im Augenblick diese Frage der Fähigkeit, das europäische Gemeinschaftsrecht insgesamt anzuwenden und durchzusetzen, die einzige noch offene Frage ist. Alle anderen Bedingungen sind einwandfrei erfüllt.

Wie sieht es mit den noch offenen Kapiteln Landwirtschaft und Wettbewerb aus?

Was Wettbewerb angeht, sind wir mit der Tschechischen Republik mit den technischen Besprechungen schon so weit, dass ich glaube, dass dieses Kapitel auf jeden Fall vor der entscheidenden Schlussrunde der Verhandlungen erledigt sein wird. Ich glaube nicht, dass das Landwirtschaftskapitel in der Tschechischen Republik besondere Probleme verursacht. Da liegen die Probleme in ganz anderen Ländern. Nein, was die Verhandlungen selbst angeht, ist nach meiner Meinung die Tschechische Republik schon über den Berg. Die Probleme liegen eher in anderen Bereichen.

In welchen?

Wie schon gesagt, geht es wie in allen Ländern darum, wirklich die Gewähr dafür zu bieten, dass die administrativen und justiziellen Fähigkeiten ausreichen, das sehr umfangreiche und komplizierte Gemeinschaftsrecht auch wirklich anzuwenden. Und dann glaube ich, wird sich jeder in der Tschechischen Republik darüber bewusst sein, dass es notwendig ist, mit dem Nachbarn ein störungsfreies und freundschaftliches Verhältnis zu haben. Es sind im tschechischen Wahlkampf Irritationen - um das Mindeste zu sagen - aufgetreten. Ich hoffe, dass das jetzt endgültig vorbei ist und dass man zu einem vernünftigen Gespräch kommen kann. Diese Fragen aus der Vergangenheit stellen aus meiner Sicht keine Beitrittshindernisse rechtlicher Natur dar. Wenn in der tschechischen Rechtsordnung noch irgend etwas dasein sollte, was nicht hundertprozentig mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht übereinstimmen sollte, dann dürfte es keine großen Schwierigkeiten machen, das anzupassen. Also hier sind keine weitreichenden und tiefgreifenden Maßnahmen zu erwarten. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich Sorge habe, dass Populisten in Nachbarländern der Tschechischen Republik die Diskussion der letzten Monate ausnutzen werden, um Stimmung zu machen gegen den Beitritt Tschechiens. Das ist das einzige wirkliche Problem, das wir noch haben. Das kann ich aber nicht lösen, das können die Tschechen mit ihren Nachbarn nur selber lösen.

Aber auch die Volksparteien im Europäischen Parlament wollen die Frage der sogenannten Beneš-Dekrete wieder aufrollen, nachdem das tschechische Rechtsgutachten vorliegt. Wie ist Ihre Haltung dazu?

Die Haltung der Kommission ist niedergelegt in der gemeinsamen Stellungnahme, die ich im April mit dem tschechischen Ministerpräsidenten veröffentlicht habe. Sie sagt das, was dazu zu sagen ist, nämlich dass kein Bereich der tschechischen Rechtsordnung von der Überprüfung ausgeschlossen wird, ob er mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist oder nicht, und wenn etwas nicht vereinbar ist, wird es entsprechend angepasst. Die Beneš-Dekrete selber sind nach meiner Überzeugung rechtlich gesehen schon lange kein Problem mehr. Sie sind entweder längst übergegangen in ganz normale Gesetze oder sie sind längst erloschen, sie entfalten keine neuen Wirkungen mehr. Die Forderung, die hier aus dem politischen Raum an die Tschechische Republik erhoben wird, ist keine rechtliche Forderung. Die Forderung etwa nach Aufhebung bestimmter Beneš-Dekrete ist keine juristisch bedeutsame Forderung, weil die rechtlichen Folgen einer solchen Aufhebung gleich Null wären, da sie heute schon keine neuen Wirkungen mehr entfalten. Es wäre eine politisch-moralische Geste, die aus dem politischen Raum von der Tschechischen Republik verlangt wird. Das Europäische Parlament wird sich nach meiner Überzeugung der Auffassung anschließen, die in der übergroßen Mehrheit der Mitgliedstaaten besteht, nämlich, dass dies alles Fragen der Vergangenheit sind, die mit dem Beitrittsprozess nichts zu tun haben, dass man die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen soll und dass man sich darauf konzentrieren soll, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Problem ist nicht das Europäische Parlament oder die europäische Institution überhaupt, Probleme könnten in dem einen oder anderen Nachbarland entstehen. Aber wir brauchen die Zustimmung jedes einzelnen Mitglieds der Europäischen Union für den Beitritt jedes Kandidaten, auch die der Nachbarn der Tschechen.

Wie beurteilen Sie als Sozialdemokrat den Sieg der Linken in den Beitrittskandidaten Polen, Ungarn und Tschechien?

Ich glaube nicht, dass das eingepasst werden kann in die großen politischen Trends, die wir im Augenblick in Europa haben. Ich glaube eher, dass das als ein weiterer Beweis dafür gedeutet werden muss, dass in den künftigen neuen Mitgliedsländern das politische System, auch das Parteiensystem, noch nicht vollständig entwickelt ist. Interessant ist: Wenn es jetzt wieder zu einer sozialdemokratisch geführten tschechischen Regierung kommt, was ich annehme, wird das die erste Regierung in allen Kandidatenländern sein, die es seit 1990 geschafft hat, wiedergewählt zu werden. In keinem einzigen Land gibt es eine Regierung, die eine zweite Wahlperiode gewonnen hat. Die tschechische wäre die erste; insofern ist das ein völlig untypisches Ergebnis, während das polnische und das ungarische sich einpasst in dieses Muster, dass bei dem Tempo der Veränderungen und den damit verbundenen Frustrationen, die wir in den Ländern Mittel- und Osteuropas erleben, eine Regierung normalerweise nicht länger als eine Legislaturperiode durchhält - bis jetzt jedenfalls. Ich glaube im übrigen nicht, dass es aus europäischer Sicht darauf ankommt, ob wir es mit einer konservativen, liberalen oder sozialdemokratischen Regierung zu tun haben. Aus europäischer Sicht kommt es darauf an, dass es Regierungen sind, die klar und eindeutig die gemeinsamen Werte vertreten und die proeuropäisch sind.